Dolmetscher mit sprechenden Händen gesucht

Winnenden (dpa) – «Russland» hat einen langen Bart, «New York» erinnert an den tragischen 11. September und Menschen können schon mal Warze, Glatze oder Bauch heißen. Gebärdensprache macht keine Schnörkel.

Die Gesten müssen voll ins Schwarze treffen. Obwohl die Sprache hier zuhause ist, ist sie vielen fremder als Englisch oder Französisch. «Es fehlen immer Dolmetscher», beklagt Werner Vollmer, Geschäftsführer der Paulinenpflege in Winnenden (Baden-Württemberg). Die soziale Einrichtung reagiert und bietet vom kommendem Schuljahr an ein deutschlandweit einzigartiges «Berufskolleg Gebärdensprache» an. Hier können Schüler neben der Fachhochschulreife die Besonderheiten der Kommunikation Gehörloser kennenlernen.

Diesen Sommer soll es losgehen. 20 Schüler sind das Minimum fürs erste Schuljahr, 14 Anmeldungen liegen bereits vor. «Das Interesse ist sehr groß», sagt Vollmer. Auf dem Stundenplan des Kollegs werden neben Regelfächern wie Deutsch, Mathe und Biologie etwa «Deutsche Gebärdensprache», «Andere Kommunikationsformen» (schriftliches Dolmetschen) sowie «Psychologie, Rhetorik und Kommunikation» stehen. Praktische Erfahrungen können die Teilnehmer am Campus der Paulinenpflege sammeln, auf dem auch 300 hörgeschädigte und sprachbehinderte Menschen lernen und leben. Finanziert wird die zweijährige Ausbildung von der Paulinenpflege als Träger, außerdem vom Land und aus dem Schulgeld, das 30 Euro pro Monat beträgt.

«Es ist ein Angebot für Jugendliche, die offen sind für soziale und christlich-ethische Themen», sagt Beate Löffler, Direktorin der Heimsonderschule. Der Abschluss als Gebärden-Dolmetscher werde nicht in der Ausbildung enthalten sein. Allerdings bringe der Besuch des Kollegs für die entsprechende Zusatzausbildung – ob Studium oder Diplom – Vorteile. «Der Einstieg wird leichter fallen», betont Eva Paulus, Koordinatorin für das Berufskolleg. Auch bei anderen sozialen Berufen könnten die Absolventen von der besonderen Ausbildung profitieren. Und alle weiteren Türen, die die Allgemeine Fachhochschulreife öffnet, stehen ihnen ebenfalls offen.

Gebärden-Dolmetscher sind gesucht, wie Vollmer betont. Rund 80 000 Menschen in Deutschland hätten vor dem vierten Lebensjahr ihr Gehör verloren – etwa jeder Tausendste. Während man früher auf dem Standpunkt gestanden habe, sie sollten das Lippenlesen lernen, sei die Gebärdensprache heute offiziell anerkannt. Laut Landesgleichstellungsgesetz gebe es sogar ein Anrecht auf einen Dolmetscher, etwa beim Elternabend in der Schule. Doch zu wenig Hörende lernen die Sprache. «Bei der Vermittlungszentrale des Gehörlosen-Verbands Baden-Württemberg sind rund 40 Dolmetscher gemeldet. Das sind nicht genug», sagt Vollmer. Etwa 100 wären nötig. Die meist freiberuflichen Übersetzer müssten teilweise weite Strecken fahren. Dafür werde die Tätigkeit aber mit bis zu 45 Euro pro Stunde vergütet. «Das ist der Marktwert.»

Paulus und Löffler finden die Arbeit mit den Gehörlosen bereichernd, das Erlernen der Gebärden spannend. «Es ist eine sehr ästhetische, körperliche Sprache», sagt Paulus. Kaum einem sei bekannt, dass jedes Land seine eigene Gebärdensprache habe, es sogar Dialekte gebe. Und dass sich die Sprache ständig weiterentwickle, ergänzt Löffler. Früher habe etwa die nach oben gestreckte Faust Russland symbolisiert, heute sei es der Bart. Und bei New York sei nach dem 11. September die Flugzeug-Attacke in die Geste eingeflossen.

«Gehörlose merken den Unterschied zwischen dem, was man gebärdet, und der Mimik sofort», hat Löffler beobachtet. Großes Gelächter gebe es immer, wenn zu Beginn eines Seminars Gebärdennamen für die Teilnehmer gesucht würden. Ein auffälliger Leberfleck, eine ungewöhnliche Frisur, ein skurriler Gang – und schon sei der Name gefunden. «Er darf aber nicht beleidigend sein», so Löffler. Sie muss sich da wenig Sorgen machen. «Ich bin übrigens Frau. ..», sagt sie, und löffelt einen imaginären Teller Suppe leer.