Sitzenbleiben Fehlanzeige: Eine Schule steht auf

Hamm (dpa) – Nevin zieht im Unterricht plötzlich ihre Schuhe aus, richtet die Socken und steht auf. Die 13-jährige Schülerin streckt sich, wippt auf ihren Zehen und stellt sich im hinteren Teil des Klassenraums in eine Ecke – an ein spezielles Stehpult.

In der Falkschule in Hamm müssen Kinder nicht mehr sitzen bleiben. Die geistige Fitness leidet, wenn Schüler bis zu acht Stunden sitzen müssen, war sich das Lehrerkollegium der Ganztags-Hauptschule einig. In jedem Klassenraum gibt es daher nun «Plätze der Bewegung».

Drei Stehpulte für jede Klasse hat man angeschafft: massive graue Tische mit einer großen Ablage für Hefte. Unter jedem Tisch liegt eine rote Matte. «Die regt die Fußzonen an. Das hilft zusätzlich gegen die Müdigkeit, weil man darauf immer in Bewegung bleibt», sagt Elke Kuhlmann, die Englischlehrerin der 7a. Damit sich jeder Schüler mal die Beine vertreten kann, wird alle 15 Minuten gewechselt. Jetzt ist Malte dran und schraubt den Tisch erstmal auf die richtige Größe. «Ich bin 20 Zentimeter größer als Nevin», sagt der 14-Jährige. Ein Unterschied, der mit den normalen Tischen im Klassenraum vernachlässigt wird.

Nach anfänglicher Skepsis schwärmen die Schüler inzwischen von ihren Pulten: «In der Klasse ist es ruhiger geworden und wenn der Nachbar ablenkt, geht man einfach weg», sagt Timo und Nevin ergänzt: «Wenn man sich hinstellt, ist man nicht mehr müde und abschreiben kann an den Stehpulten auch keiner mehr». Der einzige Aufreger sind die Stinkefüße von einigen Mitschülern, wenn sie sich barfuß auf die Matte stellen. «So sorgt das Stehpult sogar noch dafür, dass sich die Schüler häufiger die Füße waschen», sagt Elke Kuhlmann lachend.

Nach einer großzügigen Spende für die Schule im vergangenen Jahr hatte eine junge Lehrerin die Idee mit den Stehpulten. Sie hatte über eine Schule in Wiesbaden gelesen, die die Pulte 2007 als erste Schule in Deutschland angeschafft hatte. «Das passte einfach wunderbar in unser Konzept», sagt Schulleiterin Gabriele Kastner. Denn seit Jahren versucht die Schule schon, einen bewegten Schulalltag für die Kinder zu gestalten. Wackelkissen und Sitzbälle wurden ausprobiert, Diktate werden im Laufen geschrieben und auf dem Schulhof klettern die Schüler durch einen Hochseilgarten.

Die Schule investierte 10 000 Euro in 30 Einheiten. «Wenn man überlegt, dass ein normaler Arbeitsplatz für Schüler mit rund 120 Euro zu Buche schlägt, ist das mehr als doppelt so teuer», so Kastner. Trotzdem will sie sich dafür einsetzen, dass mehr Schulen von dem Projekt erfahren. Arbeitsmediziner empfehlen, dass ein Mensch an einem durchschnittlichen Arbeitstag 50 Prozent sitzen, 25 Prozent stehen und 25 Prozent gehen soll. Die meisten Schüler säßen jedoch zwischen 80 und 90 Prozent der Schulzeit, so Kastner.

«Der Mensch ist eben nicht zum Sitzen gemacht. Ohne einen bewegten Unterricht kann man das Konzept der Ganztagsschule vergessen», sagt Professor Ralf Laging vom Institut für Sportwissenschaften an der Universität Marburg. In einer derzeit laufenden Studie befasst er sich mit den zusätzlichen Anforderungen der Ganztagsschulen für Körper und Köpfchen der Schüler. «Fünf Minuten gerades Sitzen ist richtig schwere Haltearbeit für die Muskulatur, das können die Kinder nicht eine Schulstunde lang durchhalten, geschweige denn einen Acht-Stunden-Tag.» Die Folge sind sogenannte Entlastungshaltungen: Die Kinder kippeln mit den Stühlen, legen sich mit dem Oberkörper auf den Tisch oder rutschen auf dem Stuhl hin und her.

«Das führt natürlich zur Unruhe im Klassenraum. Studien haben gezeigt, dass auch die Konzentrationsfähigkeit durch den Bewegungsmangel abnimmt.» Tun Schulen etwas dagegen, haben sie auch selbst etwas davon, findet der Wissenschaftler. Der Unterricht werde durch Stehpulte und andere Bewegungsmaßnahmen ruhiger, die Schüler aufmerksamer. Ein Noten-Wunder erwartet Laging von den Pulten allerdings nicht. Mohammed aus der 7a kann das bestätigen: «Ich hab am Stehpult mal eine Englischklausur geschrieben, weil ich dachte, es würde dann besser. Es war doch nur eine Vier, obwohl mir viel mehr Worte eingefallen waren als sonst.»