Verein hilft Arbeiterkindern zu studieren

Marburg (dpa) ­ Studium oder Ausbildung? Für viele Jugendliche in Deutschland ist der Bildungsweg eng mit dem Lebenslauf ihrer Eltern verknüpft. Das Netzwerk ArbeiterKind.de will Bildungschancen – unabhängig von der Herkunftsfamilie – verbessern helfen.

Das 2008 in Gießen entstandene Projekt setzt dabei vor allem auf Information und Netzwerke. «Wer aus einer nicht-akademischen Familie stammt und trotzdem studiert hat, weiß, dass die eigentliche Benachteiligung in einem großen Informationsdefizit besteht», sagt Initiatorin Katja Urbatsch (30), die in ihrer Familie als erste zur Universität gegangen ist. Daneben fehle es häufig an familiären Vorbildern. Von 100 Kindern aus nicht- akademischen Familien entscheiden sich nur rund 23 für ein Studium, oft trotz guter Noten und ausreichender Motivation, wie aus der aktuellen Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks hervor geht.

Über die Internetplattform www.arbeiterkind.de werden allgemeine Fragen zum Studium, zu dessen Finanzierung, der Fächerwahl und zu Bewerbungsverfahren beantwortet. Daneben bietet die Initiative in ganz Deutschland Stammtische, Informationsveranstaltungen und persönliche Gespräche. Mehr als 1200 sogenannte Mentoren – Studenten, Professoren, Eltern und Berufstätige – haben sich bislang auf der Internetplattform angemeldet. Sie alle kennen die Probleme rund um den Studienalltag und stehen als virtuelle Ansprechpartner zur Verfügung. In nahezu jeder deutschen Uni-Stadt gibt es mittlerweile auch Stammtische für den Austausch.

Die Mentoren gehen aber auch in Schulen, erzählen ihre Lebensgeschichte, informieren über Stipendienprogramme und versuchen, Schwellenängste abzubauen. Mehr als 3000 Schüler seien so bislang erreicht worden. Das Mentoring ist für Eike Hebecker von der Hans- Böckler-Stiftung der Dreh- und Angelpunkt des Projekts. «Es schafft wechselseitige Identifikation, ohne dass Geld im Spiel ist», betont der Fachmann. «Die erfolgreiche Idee der Initiative ist also schlicht die Koordinationsleistung.»

Claudia Finke, verantwortlich für das Stipendiatenwerk der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung in Frankfurt, sieht die Stärke der Initiative in dem «nicht-missionarischen oder dogmatischen Ansatz». Es gehe nicht darum für ein «Studium für alle» zu plädieren. «Es gibt auch großartige Ausbildungen, von denen Kinder gar nichts wissen. Sie müssen aber die Möglichkeit haben zu wählen.» Geldmangel oder die ablehnende Haltung der Eltern allein dürften keine Argumente gegen ein Studium sein.

Das sieht Katja Urbatsch ähnlich. Das Top-Argument von Eltern: «Mach erst mal was Vernünftiges, eine Ausbildung, damit du Geld verdienst!» zeige, dass vielen die Chancen für Akademiker und ihre Verdienstmöglichkeiten – auch mit einem Abschluss in Romanistik, Geschichte oder Medienwissenschaft – gar nicht so bekannt seien. «Das Studium ist wie eine schwarze, unbekannte Box: Eltern haben Angst, ihre Kinder zu verlieren oder sich kulturell von ihnen zu entfremden, weil sie nicht verstehen, was sie machen.»

Deutschland brauche jedoch mit Blick auf den Nachwuchsmangel und im internationalen Vergleich dringend mehr Akademiker. Ziel der Bundesregierung ist es, dass 40 Prozent eines Jahrgangs studieren, zuletzt waren es 36 Prozent. Dabei hilft auch das Projekt aus Gießen. Nicht zuletzt dank des Internetportals studiert beispielsweise Sabrina vom Wintersemester an Pädagogik und Spanisch. Die 19- Jährige kommt aus einem sogenannten bildungsfernen Haushalt und hegte schon lange den Wunsch auf die Uni zu gehen. Ihr fehlten allerdings Ansprechpartner, mit denen sie über die Möglichkeit eines Studiums für sich hätte sprechen können.

«ArbeiterKind gibt Optionen an die Hand, und erklärt, was möglich ist. Man selbst hat dann die Freiheit und die Möglichkeit zu wählen», beschreibt Sabrina ihre Erfahrungen. «Für mich war ArbeiterKind.de eine große Hilfe. Ich bin durch das Netzwerk sicherer geworden.»

«Über das Internet erreichen wir die Menschen auch in ländlichen Gebieten, können auf uns aufmerksam machen und unserer Informationen verbreiten», sagt Urbatsch. Seit Mai dieses Jahres gilt die Initiative als gemeinnützig. Die Eröffnung einer Geschäftsstelle ist geplant, um das hohe Aufkommen an Anfragen bearbeiten zu können. Bislang läuft alles noch ehrenamtlich.