Lesung mit Hund

An den Mathematikunterricht in der Grundschule erinnert sich Kimberly Grobholz noch heute mit leichtem Schaudern.

Vor allem an die Momente, wenn sie an der Tafel vorrechnen sollte. Das war für mich Terror, ich hab geschwitzt, ich hab gezittert, erzählt sie. Vor solchen Erlebnissen will sie Schüler heute bewahren – allerdings nicht beim Rechnen, sondern beim Vorlesen. Deshalb hat sie das Projekt LeseHund München ins Leben gerufen.

Grobholz und fünf weitere Ehrenamtliche sind jede Woche meist in Zweierteams in fünf Schulen und Einrichtungen in München und Umgebung unterwegs. Mit dabei: ihre Hunde. Ihre Mission: Den Kindern die Angst nehmen, indem diese nicht 25 Gleichaltrigen, sondern dem Golden Retriever Tammy, dem Pudelmischling Milli oder einem anderen Hund vorlesen.

Die Idee kommt aus Grobholz’ Heimatland, den USA. Als Studentin kam sie vor mehr als 40 Jahren nach Deutschland. Sie war landesweit die erste, die das Konzept in einer ehrenamtlichen Laieninitiative umsetzte. Es läuft als Projekt des Vereins Tiere helfen Menschen, der Tierbesuche in Krankenhäusern, Altenheimen und anderen sozialen Einrichtungen organisiert.

Beißt der nie?

An diesem Morgen machen Grobholz und eine Kollegin in der Lehrerbibliothek der Münchner Mittelschule an der Wörthstraße Station. Gerade haben zwei Schüler den Raum verlassen, jetzt warten Hunde und Frauchen auf die nächsten beiden Vorleser. Leseschwache Kinder dürfen den Unterricht für 20 Minuten verlassen, um zu den Hunden zu gehen. Bilderbücher und einfache Texte liegen auf den Tischen ausgebreitet.

Pudelmischling Milli tapst fröhlich um den Stuhl seiner Besitzerin herum, soweit das die Leine zulässt. Grobholz sitzt in einer anderen Ecke, Tammy thront auf einer Decke neben ihr. Die Besitzer der Hunde sind beim Vorlesen dabei, um den Kindern schwierige Wörter zu erklären oder Fragen zu beantworten.

Die Tür geht auf, zwei Mädchen kommen herein. Eins davon ist die elfjährige Anna (Name geändert). Sie ist zum zweiten Mal da. Ich versteh’ manche Wörter nicht, und dann kann ich nicht gut vorlesen, erzählt sie. Heute will sie Grobholz’ Hund Tammy vorlesen. Ganz brav liegt der Golden Retriever neben der Heizung. Schläft der?, fragt das Mädchen ein wenig skeptisch. Beißt der? Es gefalle ihr, einem Hund vorzulesen, sagt sie.

Ganz selten hätten Kinder wirklich Angst vor den Hunden, sagt Grobholz. Das Vorlesen helfe eher, Ängste abzulegen. Allerdings beobachte sie die Reaktionen der Kinder genau – besonders von jenen, die sich selbst nicht ausdrücken können. Denn Grobholz und ihre Kollegen arbeiten auch mit Schülern aus Übergangsklassen, also mit Kindern, die erst spät nach Deutschland gekommen sind und die Sprache noch nicht beherrschen. Mit diesen üben die Ehrenamtlichen erste deutsche Wörter.

Hunde sollen motivieren

Andere Schüler kommen aus regulären Klassen und lesen eigentlich gut, stottern aber oder sind zurückhaltend. Manche haben einfach keine Lust aufs Lesen. Ich mag Hunde, und ich mag auch manchmal lesen, verkündet die elfjährige Lisa (Name geändert). Meistens aber eher nicht: Es ist so langweilig.

In solchen Fällen sollen die Hunde vor allem eines: die Kinder motivieren. Sie freuen sich drauf, berichtet Grobholz. Sie lernen das Lesen als positives Erlebnis kennen. Wenn sie morgens in eine Klasse komme, um die ersten Schüler abzuholen, gebe es jedes Mal einen Riesentrubel, weil alle auf einmal mitwollten.

Zwar erlebten die Kinder auch Enttäuschungen, wenn es nachher vor der Klasse nicht so gut klappt wie mit Tammy oder Milli. Nach und nach stelle sich der Erfolg trotzdem ein: Wir haben erlebt, dass die Kinder freier werden mit der Zeit, sagt Grobholz. Auch Anna ist zuversichtlich, dass ihr die Besuche bei den Hunden helfen: Ich hoffe es.

Die Experten des bayerischen Kultusministeriums haben die Lesehunde zwar noch nicht begleitet und sich daher noch keine Meinung über sie gebildet. Prinzipiell sieht das Ministerium solche Projekte aber positiv, wie ein Sprecher sagt: Grundsätzlich begrüßen wir alle Initiativen, die das Lesen fördern.