Eine Reformidee feiert Geburtstag

Was vor 40 Jahren als bildungspolitisches Reformprojekt begann, präsentiert sich heute wie ein Wirtschaftsunternehmen.

Am 26. Oktober 1971 nahm in Kassel die erste deutsche Gesamthochschule den Lehrbetrieb auf – ein sozialdemokratisches Vorzeigemodell, das die Kluft zwischen Fachhochschulen und akademischer Ausbildung, zwischen erstem und zweitem Bildungsweg schließen sollte.

Mittlerweile heißt Hessens jüngste Hochschule längst ganz normal Universität und sucht den Fortschritt anderswo. Alle wichtigen Kennzahlen zeigen nach oben, vermeldete die Universität Kassel stolz, als sie kürzlich ihren ersten Jahresbericht vorlegte – eine Hochglanzbroschüre voller Zahlen und Tabellen, wie man sie von Konzernbilanzen kennt.

An diesem Mittwoch wird das Jubiläum mit einem Festakt gefeiert. 40 Jahre nach ihrer Gründung sei die Universität Kassel eine Erfolgsgeschichte, sagt Unipräsident Rolf-Dieter Postlep. Begonnen hatte alles mit dem Zusammenschluss mehrerer Fachhochschulen und der bereits seit 1777 bestehenden Kasseler Kunsthochschule zur Gesamthochschule Kassel, kurz: GhK. Dahinter steckte eine soziale Reformidee: Bildung als gleiches Recht für alle.

Obwohl das Konzept 1976 von der damaligen SPD-FDP-Bundesregierung zur Zukunft der Universitäten erklärt worden war, blieb es bis zuletzt exotisch: Nach der GhK wurden nur noch in Nordrhein-Westfalen fünf Gesamthochschulen gegründet.

Heute bestehen völlig andere Bedingungen als in den Gründungsjahren, sagt Präsident Postlep. Aber es gibt viele Anstöße aus dieser Zeit, die noch bis heute wirksam sind. Denn in gewisser Weise darf sich die nordhessische Hochschule als Trendsetter fühlen: Im Kasseler Modell konnten Abiturienten und Studienanfänger ohne Abitur zunächst gemeinsam ein Kurzstudium absolvieren und danach entscheiden, ob sie weiter nach akademischen Würden streben oder ins Berufsleben gehen.

Was die GhK damals noch zum Unikum in der deutschen Hochschullandschaft machte, ist mittlerweile Alltag an deutschen Universitäten – nur dass die Abschlüsse nicht mehr Diplom I und Diplom II heißen, sondern Bachelor und Master.

Studiert werden kann in Kassel heute fast alles – Maschinenbau, genauso wie Kunst. Nur Medizin und Jura sind nicht im Angebot. Als vor 40 Jahren waren 2.913 Studierende eingeschrieben. Im laufenden Wintersemester sind es rund 21.500 junge Menschen.

Trotz verschärfter Zulassungshürden reicht der Platz nicht mehr. Die Universität mietet darum für Vorlesungen sogar ein Kino und eine Kirche an.

Gelehrt wird jetzt von 8 Uhr morgens bis 21 Uhr abends. Angesichts der doppelten Abiturjahrgänge in Hessen müssen wir damit rechnen, dass der Zustrom junger Menschen in den Jahren 2013 und 2014 nochmals deutlich zunehmen wird, sagt Unipräsident Postlep.

Mit Entspannung bei der Raumsituation ist erst in gut zwei Jahren zu rechnen: Bis Anfang 2014 sollen auf dem Campus am Holländischen Platz sechs Hörsäle und acht Seminarräume neu entstehen. Der Bau des knapp 32 Millionen Euro teuren Hörsaal und Campus Centers (HCC) beginnt an diesem Montag.

Außerdem soll in den nächsten Jahren ein ehemaliges Fabrikgelände, umgebaut und für die Universität genutzt werden. Die Hochschule spricht vom größten Umbruch ihrer Geschichte. Denn dann sollen auch die Institute, die derzeit noch weit draußen im Stadtteil Oberzwehren, dem ursprünglichen Standort der GhK, residieren, ins Zentrum umziehen. Doch ob und wann es dazu kommen wird, ist unklar.

Um die Pläne vollständig umzusetzen, wären statt der ursprünglich kalkulierten 226 Millionen Euro wohl mehr als 400 Millionen Euro nötig. Und die will das Land bislang nicht einfach zur Verfügung stellen – auch wenn der Bund der Steuerzahler in Hessen bereits jetzt die drohende Verschwendung von Steuergeld wittert und den Fall deshalb in sein jüngst erschienenes Schwarzbuch aufgenommen hat.