Am Computer lernen Erwachsene lesen und schreiben

Rostock (dpa) – Alex bewegt sich zielgerichtet durch das geräumige Zimmer. An der Tür hebt er einen Brief auf, geht an eine Schublade, nimmt den Brieföffner und lässt sich den Brief vorlesen.

Drin sind schlechte Nachrichten: Sein Haus soll gepfändet werden, wenn er nicht binnen vier Wochen die überfällige Rate zahlt. Als er auch noch das Wort Zwangsräumung hört, fällt er in Ohnmacht.

Die Szene ist Teil eines vom Rostocker Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung mitentwickelten Lernspiels, das sogenannten funktionalen Analphabeten einen neuen Zugang zum Lernen ermöglichen soll. «Wir haben das Adventure-Spiel Alphabit für Erwachsene gemacht, die nur wenig lesen und schreiben können», sagt Designerin Katharina Schmidt. Es sei für Menschen, die aus verschiedenen Gründen das Lesen und Schreiben verlernt oder nie richtig gelernt haben und nun merken, wie enorm wichtig diese Dinge im Alltag sind. Denn die Einschränkungen sind gravierend: Sie brauchen Hilfe, im Supermarkt oder bei wichtigen Briefen vom Amt. Der erste Arbeitsmarkt ist oft unerreichbar fern.

Schätzungsweise vier Millionen Menschen ohne ausreichende Schreibfähigkeiten leben in Deutschland, in Mecklenburg-Vorpommern sind es rund 80 000. Ein Land wie Deutschland kann es sich aber nicht leisten, dass bis zu fünf Prozent seiner Bürger Schwierigkeiten bei grundsätzlichen Dingen wie Lesen und Schreiben haben. Darum fördert das Bundesbildungsministerium die Entwicklung von Alphabit mit zwei Millionen Euro. Der Gesamtetat für den Förderschwerpunkt «Alphabetisierung/Grundbildung für Erwachsene» wird vom Ministerium für die Zeit von Ende 2007 bis 2012 mit 30 Millionen Euro angegeben.

Nachdem der virtuelle arbeitslose Alex aus der Ohnmacht wieder aufgewacht ist, hört er eine weibliche Stimme: «Jetzt lass den Kopf nicht hängen, du wirst bestimmt bald Arbeit finden.» Der User kann genau diese Worte – wie jedes andere Wort – am unteren Bildschirmrand mitlesen, kann sie sich auch wiederholen lassen. Aus seiner Notlage heraus entwickelt sich nun die Geschichte, die ihn ins Mittelalter führt. «Ein interessanter pädagogischer Effekt: Wir holen den Spielenden in der heutigen Welt ab und versetzen ihn in eine Welt, in der es wenige Leute gab, die lesen und schreiben konnten», sagt Schmidt. Alex mit seinen geringen Kenntnissen ist dort also ein Experte, eine für ihn und damit auch für den User neue Erfahrung.

Alphabit wird nach der derzeitigen Probephase in Mecklenburg-Vorpommern deutschlandweit kostenlos zur Verfügung gestellt. Denn die Leute, die nicht lesen und schreiben können, haben selten Geld für Computerprogramme übrig. Das Programm soll über die Volkshochschulen verteilt werden, die sich seit Jahrzehnten schon intensiv um diese Klientel kümmert. «Ein Studie zeigte jüngst, dass rund 50 Prozent der Analphabeten einen Computer zu Hause haben. Meist zum Spielen – darauf stützen wir uns und sprechen so die jüngeren Menschen an», sagt Schmidt. Der Tenor ist: «Ihr müsst nicht immer auf der Schulbank sitzen. Es gibt manchmal auch andere, für Euch bessere Wege».

Diese Einschätzung wird von Kerstin Krüger, Fachbereichsleiterin an der Volkshochschule Rostock, geteilt. «Alphabit ist eine sinnvolle Ergänzung des Unterrichts», betont sie. Die Kursteilnehmer seien richtig heiß darauf, dass bald die Endfassung des Spiels lieferbar ist. Aber wie Schmidt warnt auch sie vor dem Glauben, dass der, der Alphabit zu Ende spielt, dann auch lesen und schreiben kann. «Alphabit kann nur begleiten und ist niemals Ersatz für Unterricht.»