Vertuschen um jeden Preis: Analphabeten lernen lesen

Nürnberg (dpa) – Auf dem Bildschirm poppt ein gemalter Apfel auf, danach kommt das Foto eines Autos. In riesigen Lettern tippen die Schüler die passenden Begriffe dazu in den Computer.

Andere lösen Kreuzworträtsel, auf denen kleine Symbole abgebildet sind. Doch es sind keine Grundschüler, die in den hellen Räumen des Nürnberger Alphazentrums lesen und schreiben lernen. Es sind Erwachsene, die zu den schätzungsweise vier Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland gehören.

Schnell die Mails checken, danach das Briefwahl-Formular ausfüllen und anschließend genüsslich die Zeitung lesen – allein in Nürnberg scheint das für rund 24 000 Menschen schier unmöglich. Lesen und Schreiben stellt sie vor unüberwindbare Herausforderungen. «Das ist sicher eines der größten Tabuthemen, die wir in Deutschland haben», sagt der Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung, Peter Hubertus.

Dabei sind die Folgen für die Betroffenen gravierend: Im Alltag brauchen sie oft Hilfe, Briefe vom Amt werden nicht verstanden, die Arbeitssuche gestaltet sich schwierig. Hinzu kommt die Scham, im Hinblick auf Lesen und Schreiben das Niveau eines Erst- oder Zweitklässlers zu haben – zumal die Gesellschaft Analphabeten oft vorschnell als «dumm» verurteilt.

Kein Wunder, dass viele versuchen, das Manko zu vertuschen. So wie die Kellnerin, die sich immer absichtlich in den Finger schnitt, wenn sie anstelle einer Kollegin die tägliche Menükarte beschriften sollte. «Die angeblich vergessene Lesebrille ist schon bekannt, diese Ausrede ist ja fast schon entlarvend», schildert Hubertus. Oft wirkt auch das Umfeld mit, etwa wenn Freunde beim gemeinsamen Zelten gerne «Stadt-Land-Fluss» spielen wollen. Die Partnerin schlägt dann etwa ein Alternativprogramm vor und geht mit dem Betroffenen im strömenden Regen spazieren.

«Jeder Mensch, der nicht schreiben kann, braucht eigentlich eine Vertrauensperson, die ihm Dinge abnimmt, zu denen er selbst nicht in der Lage ist», erläutert Hubertus. Dieses System funktioniert oft jahrelang recht gut. «Die kommen zu uns, weil irgendetwas passiert», berichtet Ursula Brock, Projektleiterin des Nürnberger Alphazentrums. «Das einzige Kind wird eingeschult. Oder es kommt zur Trennung: Der Partner, auf den man sich jahrelang verlässt, ist plötzlich weg.» Auch Arbeitslosigkeit könne den Anstoß geben, als Erwachsener noch lesen zu lernen.

Bundesweit gibt es deshalb entsprechende Kurse. Seit dem 22. Juni können Betroffene auch im Alphazentrum im Nürnberger Südpunkt das Versäumte nachholen. Die Teilnehmer kommen aus allen Teilen der Bevölkerung, doch stechen zwei Gruppen besonders hervor: Junge Männer zwischen 20 und 35 Jahren, die sich erst durch die Schule mogeln und nach einigen Jahren im Beruf merken, dass die fehlenden Kenntnisse ein echtes Hindernis sind. Und Frauen Mitte 50, die nach der Familienphase endlich etwas für sich tun möchten.

Viele Teilnehmer werden auch vom Arbeitsamt zu den Alphabetisierungskursen geschickt. «Wir haben kaum noch Nischen in der Arbeitswelt, wo man ohne ausreichende Kenntnisse in Lesen und Schreiben zurechtkommt. Vor 30 Jahren war das noch anders, da musste man nur starke Arme haben», schildert Hubertus. In Nürnberg gibt es laut Brock hingegen durchaus Jobs für Betroffene, etwa in Großküchen, auf Baustellen oder in Putzkolonnen. «Das sind keine tollen Stellen, das ist oft unangenehme und unattraktive Arbeit, aber es gibt sie – und zwar mehr, als wir erwartet haben.»

Auch wer einen Job habe und etwa Schicht arbeite, könne an einem der über die Woche verteilten Kurse teilnehmen, betont der Leiter des Nürnberger Bildungszentrums, Wolfgang Eckart. Das Nürnberger Modell sieht darüber hinaus auch Kinderbetreuung und zusätzliche Lernangebote vor. So sollen die Teilnehmer den Umgang mit Geld, Haushaltsplanung, richtige Ernährung und Gesundheitsvorsorge lernen – ein in Deutschland einmaliges Konzept. Wer durchhält, für den beginnt laut Eckart oft eine völlig neue Lebensphase. Vom Verstehen eines Beipackzettels bis hin zur demokratischen Teilhabe eroberten sich die Lernenden Schritt für Schritt die Welt.

Schätzungen zufolge können rund vier Millionen Erwachsene in Deutschland so schlecht lesen und schreiben, dass sie den Inhalt einfacher Texte nicht verstehen. Unabhängig davon, ob die Betroffenen selbst einzelne Buchstaben nicht entziffern können oder ob sie schon mühsam kurze Sätze lesen – in Alphabetisierungskursen können auch Erwachsene noch erfolgreich Lesen und Schreiben lernen. Im Folgenden die wichtigsten Anlaufstellen:

Informationen: Das Alpha-Telefon des Bundesverbands für Alphabetisierung und Grundbildung vermittelt unter 0251 53 33 44 auch anonymen Anrufern bundesweit Ansprechpartner und Kurse.